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Rechtsruck in Österreich, aber nicht in Niedersachsen?

Zwei Zwergstaaten haben gewählt, und die Zeitungen sind voll mit „Rechtsruck“ in dem einem (Österreich, ~ 8.7 Mio Einwohner). In Niedersachsen (c. 7.9 Mio Einwohner) blieb er aus, oder? Ein Vergleich.

Die Ergebnisse der Regionalwahlen am Sonntag in Niedersachsen, einem unserer Bundesländer, und Österreich, einem Überbleibsel einstiger Habsburger Größe und von ähnlicher internationaler Bedeutung wie Niedersachsen (aber mit Stimm- und Vetorecht bei EU- Entscheidungsprozessen, da ein Staat und kein Land), liegen auf dem Tisch. Der Vergleich ist interessant, da strukturell wenig Unterschiede bestehen zwischen beiden Ländern (von Wien der ehemaligen, etwas angestaubten Weltmetropole mal abgesehen; Hannover ist dagegen – damals und heute – tiefste Provinz, auch ist das Wetter viel besser in Österreich). In beiden spielt die Agrarindustrie immer noch eine große Rolle, und beide sind im Kern konservativ geprägt über Jahrhunderte. Dem Namen entsprechend ist Österreich reicher (BIP 2016: 349,5 Mrd € vs. 246 Mrd € für Niedersachsen, der Heimat von Volkswagen).

Das Interessanteste vorweg bezüglich Demokratie und Demokratiemüdigkeit in einem vereinigten Europa (als Europäer mit demnächst der vierten Sozialversicherungsnummer liegt mir das Thema echt am Herzen): von ~ 6.4 Mio Wahlberechtigten in Österreich gingen dreiviertel der Wahlberechtigten zur Wahl (es ging ja um etwas), in Niedersachsen gerade mal drei von fünf von etwas weniger Wahlberechtigten (6 Mio).
Fühlen sich die Niedersachsen durch die Bundesregierung (der 80 Mio) ausreichend repräsentiert und haben daher ein deutlich geringeres Interesse daran, wer tatsächlich über einen beträchtlichen Teil ihres alltäglichen Lebens bestimmt (Grund- und Gewerbesteuern, Infrastruktur, Bildung, soziale Versorgung liegen – noch – weitesgehend im Zuständigsbereich der Länderregierungen in unserer föderalen Republik)? Und, muß man in einem Europa ohne Grenzen das zusammenwächst (trotz der zahlreichen Widerstände, Haken und Ösen) nachvollziehen können, warum der Kanzler von achteinhalb Millionen Österreicher deutlich mehr mehr Macht und Einfluß hat als der Ministerpräsident von nicht viel weniger Niedersachsen? Ich kann es nicht.

Kleine Information am Rande zur Dimension: keine der österreichischen Parteien würde in Deutschland die 5%-Hürde knacken können, allerdings hätten SPÖ, ÖVP und FPÖ die Chance über die 3-Direktmandatsklausel in den Bundestag einzuziehen und so die 5%-Hürde zu umgehen wie einst die Bayernpartei, das BHE und die PDS nach der Wende (falls man absolut nicht verstehen kann warum es nicht wenige der 5½ Mio Schotten und 7½ Mio Katalanen zur Unabhängigkeit treibt, aber nicht aus der EU, siehe Österreich und andere „Zwergstaaten“)

Zum Ergebnis. Auf den ersten Blick erscheinen sie recht unterschiedlich. Während in Österreich die Schwiegermütter und andere einen kollektiven Kurzschluß erlitten – besagter Kurz (ÖVP, auch wenn sich die Liste anders nannte um ein wenig auf Jupitre Macrons En Marche zu machen) zog mit schwiegersohnfreundlichem Dauerlächeln, gestähltem inhaltsfreiem Jung-Opportunismus und viel Anti-Flüchtlingsrhetorik – am Original FPÖ vorbei – blieben deren niedersächsichen Pendants (CDU, AfD) weit hinter ihren Erwartungen zurück. Die Grünen [AT, GE] verloren die zweistellige Zustimmung bei beiden Wahlen und dezidiert linke Parteien/Bewegungen spielen kaum eine Rolle. In Niedersachsen scheiterte die Linke an der 5%-Hürde mit knapp 180.000 Stimmen, in Österreich wird die Liste Pilz mit über 215.000 Stimmen (4%-Hürde) wohl ins Parlament kommen (die österreichischen Grünen, um die 195.000 Stimmen, dürfen noch hoffen, daß alle Wahlbriefe auch ankommen – ordentlich verklebt natürlich).

Kuchendiagramme zu den gestrigen Regionalwahlen. Farben sind abgeglichen zum besseren Vergleich. Zur Einordnung: die Aussagen der Mitglieder der Liste Pilz, einer Form von Anti-Partei, sind am ehesten zu vergleichen mit denen der niedersächsichen Linken; sowohl die österr. als auch die nieders. Grünen stehen weiter 'links' (im klassischen Sinne) als die bundesdeutschen Grünen, während die nieders. FDP eine dezidiert rechtskonservative Partei ist, im Unterschied zum rein-neoliberalen NEOS. Die ehemaligen Parteien Team Stronach (TS) und BZÖ sind weitesgehend in ÖVP und FPÖ aufgegangen (entsprechend ihrer politischen Ausrichtung).


Berücksichtigt man die nakten Zahlen im Hinblick auf die Positionen der Parteien ist der „Rechtsruck“ in Österreich allerdings a) nicht dramatisch (gerade mal ~ 300.000 Wähler wanderten von Grünen und SPÖ zur ÖVP und FPÖ; etwa ein Sechsel der Wählerschaft von 2013), und b) nicht dramatischer als der bei der Buntestagswahl. SPD und CDU/CSU verloren von niedrigem Ausgangsniveau netto 3.5 Mio Wähler an „rechtere“ Parteien, etwa 12% ihrer Wählerschaft von 2013). Und auch Niedersachsen ist deutlich nach rechts gerückt, auch wenn sich das in den Wählerströmen nicht arg widerspiegelt. Parteien, die klassisch (wirtschaftpolitisch) linke und liberale Standpunkte vertreten sind hier wie dort unter 10%. Gerade in Sachen Migrationsrhetorik stand die SPÖ der Kurz-Liste ÖVP und dem Original FPÖ nur im Ton nach, aber wenig im Inhalt. Das gilt auch zu gewissem Grad für die SPD Niedersachsen.

Hier eine Aufstellung was die Niedersachsen wollen angesichts des Wahlerbnisses und der Angaben der Parteien zum niedersächsichen Wahlkompass (die entsprechenden Mehrheitsparteien im künftigen Landtag Niedersachsens in Klammern; absolute Mehrheit erreicht bei 68 von 137 Abgeordneten und angenommen diese stimmen der Parteilinie entsprechend ab).
  • Keine offizielle Anerkennung von islamischen Feiertagen (82 Stimmen von CDU, Grüne, FDP, AfD)
  • Straffällige Asylanten abschieben (125: SPD, CDU, FDP, AfD)
  • Abschieben von Ausländern, die unter Verdacht schwerer Straftaten stehen (70: CDU, FDP, AfD)
  • Linksextremismus stärker bekämpfen (70: CDU, FDP, AfD)
  • Mehr Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen (114: SPD, CDU, AfD)
  • Cannabiskonsum nicht legalisieren (114: SPD, CDU, AfD)
Das sind alles Punkte bei der sowohl die stramm-rechtsnationale FPÖ, als auch die frischneue Opportunistenbewegung Kurz (vormals ewig-ländliche ÖVP) voll zustimmen könnten, und wohl auch der Teil der SPÖ, der offen oder heimlich mit Rot-Blau liebäugelt nach Burgenländer Vorbild.

Interessant aber auch die positiven (menschenfreundlich-progressiven) Aspekte im Bereich Soziales in Niedersachsen. Parlamentarische Mehrheiten gäbe es für die Herabsetzung des Wahlalters auf 16, einer gemeinsame Forderung von SPD, Grüne, und FDP (78 Stimmen, letztere hat die dazu notwendige Ampel-Koalition schon ausgeschlossen) – in der Frage sind die Österreicher schon weiter, die Regelung besteht österreichweit schon seid 2007 – und der generellen Einführung von Islamreligionsuntericht an den Schulen (alle außer AfD, 128 Stimmen). Außerdem gibt es keine Mehrheit für mehr Privatdatensammeln (dafür nur 61: CDU und AfD).

Alles in allem, der Rechtsruck steckt den Europäern, zumindestens der Mehrheit derer, die auch wählen gehen, in den Knochen. Und da schenkt es sich wenig, ob es um ehemalige k.u.k. Kernländchen geht oder die flache norddeutsche Provinz. Und was das Lob angeht, die AfD in Niedersachsen konnte kleingehalten werden, weil es zwei echte Alternativen gab (Rotgrün gegen Schwarzgelb): der Wähler hat beide nicht gemocht! Und die Folge wird eine GroKo sein mit sehr dünnen gemeinsamen Nenner (Minderheitsregierungen gibt es ja nicht), sehr zur Freude der AfD (siehe Postskriptum). Da hat es Österreich besser, Kurz wird der FPÖ um Strache das meiste durchgehen lassen, ein politisches Programm hat er ja (noch) nicht. Vielleicht wird auch Mutti Angela ihm sagen, wo es langzugehen hat, wie bei anderen Lokalfürsten im Südosten des deutschen Sprachgebiets. Zur Gewinnmaximierung und Schutz der EU-Außengrenzen, kann man als Alternative vielleicht auch eine Wiederbelebung der k.u.k.-Idee andenken: Seehofer, Strache und Orban verstehen sich ja ganz prächtig.


Postskriptum. Umwelt- und bildungspolitisch dürfen sich die Niedersachsen auf Kohlekraft und Sitzenbleiben freuen, die Unis bleiben frei, aber die Gesamtschulen werden nicht weiter ausgebaut; dafür gibt es mehr FFH-Gebiete, Gas im Grund- und Trinkwasser (kein Frackingverbot) und freie Jagd auf den Wolf (als ob es keine größeren Umweltprobleme gäbe in oder außerhalb von Niedersachsen, viel mehr als ein Wolf ist es eh nicht). So zumindestens die Forderungen der Parteien ... für den kleinsten gemeinsamen Nenner der beiden noch möglichen Koalitionen, siehe folgende Grafik.

Die beiden (noch theoretisch-möglichen) Koalitionen nach der Niedersachsen-wahl. Positionen der Parteien entlang der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Achse und sozialpolitischen Achse (progressiv-konservativ). Unstrittige Punkte sind aufgelistet (von 30 abgefragten). Einstufung und Fragen entstprechend dem Wahlkompass zur niedersächsichen Landtagswahl.

Sonstige posts zur Niedersachsenwahl (von mir)

Infografiken zum Wahlkompass zur niedersächsischen Landtagswahl 2017, wie standen die Parteien zueinander.
Die Standpunkte der Parteien, wo waren sie sich einig und worin unterschieden sie sich.

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