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Wahl-O-Mat 2017 – wie nah sind sich eigentlich die Parteien?

Als in Frankreich (EU-Land) lebender Deutscher (anderes EU-Land), habe ich leider keinen Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments und der Regierung, deren Politik mein tägliches Leben bestimmt. Aber – zumindestens theoretisch – könnte ich an der Bundestagwahl teilnehmen.


Auch in diesem Jahr hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) einen Wahl-O-Mat herausgebracht. Und selbst wenn man wie ich eine sehr klare Vorstellung davon hat, wo man politisch-gesellschaftlich steht (für diejenigen, die es nicht wissen, ist der Selbsttest von The Political Compass ein guter Anfang), und was man den Umständen schuldend wählen sollte (z.B. keine Partei ohne Chance die 5%-Hürde zu knacken, da sonst die Stimmabgabe umsonst war), macht es doch immer wieder Spaß es auszuprobieren.

Der Vorgang an sich

Man beantwortet also 36 Fragen mit "stimme zu", "neutral", "stimme nicht zu"; selektiert dann acht Parteien, und kriegt dann ein Bildchen mit Balken, das einem die Prozent Übereinstimmung angibt. 1. Platz – höchste Übereinstimmung, 8. Platz – geringste Übereinstimmung. Warum man keine Liste bekommt mit der Übereinstimmung mit allen 32 Parteien, die mitgemacht haben, ist nicht ganz klar. Vielleicht weil der Wahl-O-Mat einem die Entscheidung nicht abnehmen soll? Oder weil man nur die Übereinstimmung sehen soll mit Parteien, die auch tatsächlich eine Chance haben ins Parlament zu kommen? [Erste Reihe sind die derzeit im Parlament vertretenden Parteien, dann die angetretenden nach Stimmenanteil bei der letzten Wahl, und die Neu- oder Returlinge kommen dann alphabetisch hinten an.]

Ein paar Haken

Als Wissenschaftler, der viel mit Daten und Modellen zu tun hatte, bin ich von Natur aus skeptisch was Balkendiagramme und Prozentwerte angeht. So habe ich z.B. mehr Übereinstimmung (50%) mit einer Einthemen-Partei namens Partei für Gesundheitsforschung (PfG) als mit der Pünkchenpartei FDP (47,5%). Was insofern interessant ist, weil laut der Komplettübersicht, in dem sämtliche Antworten der Parteien zu den 36 Fragen aufgelistet sind, die PfG alle mit "neutral" beantwortet hat. Während ich alle mit "stimme zu" oder "stimme nicht zu" beantwortet habe. Der gleiche Übereinstimmungswert liegt jetzt nicht daran, daß – wie manche vermuten könnten – auch die FDP fast alle 36 Fragen mit "neutral" beantwortet hat, sondern ich einfach in fast jeder zweiten Frage mit der FDP nicht übereinstimme. [Was verblüffend wenig ist im Hinblick der politischen Orientierung der FDP als (wirtschaftspolitisch) stramm rechte Partei mit leicht autoritären Zügen, während ich laut Political Compass ein klarer (ultra-)Gandhi-Typ bin. Allerdings leide ich auch an liberal denial im Endstadium.]
Ein kleiner Webfehler des Wahl-O-Mats: "neutral" vs. "stimme zu/nicht zu" wird mit einem Punkt gutgeschrieben, Übereinstimmung mit zwei, und Kontrast mit keinen. Also kommt jeder auf 50% Übereinstimmung mit der PfG, die zu keiner der 36 Fragen eine Meinung hat (was ich übrigens sehr konsequent finde für eine explizite 1-Themen-Partei).

Außerdem interessiert es mich, wie unterschiedlich die Parteien überhaupt sind. Im Wahl-O-Mat wird extra drauf hingewiesen, daß eine gleiche Übereinstimmung mit mehr als einer Partei, nicht bedeutet dass diese beiden Parteien übereinstimmen. Stimmen z.B. zwei Parteien in 50% der Fragen nicht überein, und ich stimme 50:50 der einen oder anderen Partei bei den strittigen Fragen zu, komme ich auf 75% Übereinstimmung mit beiden. Andersrum könnte es sein dass ich zu 75% mit zwei Parteien übereinstimme, die exakt in diesen Fragen auch übereinstimmen (also 75% Übereinstimmung zueinander haben).

Meine Lösung des Problems: Distanzanalyse

Man kann die Antworten der Parteien leicht in Form einer binären Matrix kodieren, in der "0" für "Nein, stimme nicht zu" steht, und "1" für "Ja, stimme zu", keine Meinung/Angabe wird "?". Dann ermittelt man die einfache paarweise Distanzen.
  • Eine Distanz von 0 bedeutet, daß zwei Parteien in keiner Frage nicht übereinstimmen. Das ist methodisch was anderes als in allen Fragen überzueinstimmen, denn die Parteien haben ja die Möglichkeit "neutral" zu bleiben, wie z.B. die CDU/CSU bei der Frage nach der Obergrenze für Flüchtlinge (sehr interessant in dem Zusammenhang ist, warum CDU und CSU nur einen Fragebogen ausfüllen und nicht zwei).
  • Eine Distanz von 1 bedeuted, dass sie in allen Fragen, die sie mit "stimme zu"/"stimme nicht zu" beantwortet haben, nicht übereinstimmen. 

Und so sieht das dann in der Komplettübersicht aus, für die Angaben zu den Wahl-O-Mat Fragen. Die PfG fehlt, da ihre paarweisen Distanzen nicht sinnvoll bestimmbar sind.

Eine sogenannte heat map mit paarweisen "politischen" Distanzen. Grün – kaum Unterschied, Rot - kaum Übereinstimmung. Grundlage für die Distanzmatrix sind die Antworten der Parteien auf die 36 Fragen des Wahl-O-Mats. Zur Sortierung wurde primär die Ähnlichkeit zu dezidiert linken (far left) oder offen-nationalistischen(far right) Parteien herangezogen. Die daraus folgende Sortierung folgt im Groben dem traditionellen Links-Rechts-Schema.

Dann füttert man das ganze z.B. in ein Programm mit dem Namen SplitsTree, das ein sogenanntes neighbour-net aus der Distanzmatrix errechnet (siehe Beiträge auf diesem Blog, in Englisch).

Neighbour-net basierend auf der Distanzmatrix oben. Die Klammern um dezidiert linke (far-left) und rechte (far-right; entsprechend dem Selbstverständnis) Parteien dienen zur Orientierung. Parteien mit Chancen in den Bundestag zu kommen sind hevorgehoben (siehe hierzu auch die Analyse von Political Compass).

Der Graph, ein planares (d.h. 2-dimensionales) Netzwerk, versucht die politischen Distanzen, die Ähnlichkeit/Unähnlichkeit basierend auf der Summe der Antworten der Parteien, abzubilden. Die Linien (edges = Kanten) repräsentieren mögliche Zweiteilungen (splits) der Objekte (taxa; hier Parteien). Das Grundprinzip des neighbour-nets ist es den nächsten und zweit-nächsten Verwandten zu finden, wodurch es zu der netzartigen Struktur kommt. Je stärker der Konflikt in den Daten, desto „boxiger“ wird der Graph. Ein Beispiel: die CDU/CSU zeigt dieselbe Übereinstimmung mit der FDP wie mit der SPD (politische Distanz, PD von 0,23). Also gibt es Bündel (edge bundles), die die CDU/CSU mit der FDP (blau) als auch der SPD verbinden (rot). Die PDV ist in ihren Antworten sehr ähnlich der FDP (PD = 0,14) und sonst kaum einer anderen Partei (zweit-nächste ist die ADD, mit PD = 0,33), daher das lange gelbe edge bundle.

Das einzige was man jetzt noch tun muß, ist es alle Fragen zu beantworten, seine Antwort binär zu kodieren, die Distanz zu den Parteien bestimmen und sich selbst ins Netz einbauen.

Das Ergebnis

Die Position im Netzwerk spiegelt generell recht gut die politischen Positionen der Parteien zueinander wieder. Far-right und far-left sind an möglichst unterschiedlichen Enden. Daß die SPD der CDU/CSU genauso nahe ist wie die FDP kann nur jemand überraschend finden der die letzten 15 Jahre verpennt hat. Interessant auch die Position der ADD an der Basis des FDP/CDU Astes, zwischen FDP/PDV und AfD. Die ADD ist eine junge Kleinpartei, eine Art „deutscher AKP“ (Erstentwurf Parteiprogramm), die sich an konservative Deutsche mit Migrationshintergrund wendet (Tagesspiegel, 26.11.2016). Ebenfalls gut getroffen im Netwerk die Position der ÖDP, einer grün-konservativen Partei. Sie liegt zwischen den (mehr) „rechten“ und (mehr) „linken“ Parteien, aber gegenüber den Braunkohleparteien SPD (PD = 0.34) und BüSo (PD = 0.44), und den „linken“ Grünen (PD = 0.24). Die meisten antretenden Parteien clustern in einer Art „Linken Eck“ (oben links im Netzwerk). Ein klassisches Problem der Linken weltweit: viele Möglichkeiten, obwohl die Unterschiede doch recht gering sind (siehe heat map). Zumindestens was ihre Antworten auf die 36 ausgewählten Wahl-O-Mat Fragen angeht.

Die Linken (derzeit leicht-links und schwach-libertär) heben sich in den 36 Fragen nicht ab von wirklich linken (kommunistischen) Parteien (Far-left: DKP, MLPD, SGP). Die Nulldistanz zur 1-Themen-Partei BGE täuscht darüber hinweg, daß die Linke (wie auch die Grünen) bei der für die BGE essentiellen Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen gepaßt haben. Es wäre interessant zu sehen, ob sich das „Linke Eck“ stärker differenzieren läßt, könnte man alle 83 Fragen in die Analyse einfließen lassen. Real-politisch stehen z.B. die Grünen deutlich anders als die Linke, was sich in ihrer sehr bunten Koalitionspolitik niederschlägt. Das die Grünen im Graph so weit „links“ rauskommen, liegt an mehreren Gründen. Keine Partei ist der SPD näher als die Grünen (PD = 0.2; siehe auch die Einordnung durch The Political Compass), aber viele der Parteien die sich im „Linken Eck“ tummeln, sind den Grünen deutlich näher als der SPD. Da der Graph nur 2-dimensional ist, und die SPD schon an der CDU/CSU klebt (PD < 0.3 finden sich für die SPD außerdem zum BüSo, der ADD, und den Freien Wählern, alles Parteien die generell der ±rechts-autoritären CDU/CSU viel näher stehen als den Grünen oder der Linken), zieht es die Grünen nach „links“. Allerdings sind sie innerhalb des „Linken Ecks“ recht distinkt, angezeigt durch ihr relativ langes terminales edge.

Eine weitere distinkte Partei im „Linken Eck“ sind die Humanisten. Diese Partei stimmt in ihren Ansichten generell besser mit den „linken“ Parteien, und hier insbesondere der Piratenpartei (PD = 0,13), als mit „rechten“. Letztere hat – eventuell aus schierer Verzweiflung wegen ihres Absturzes – einen scharfen „Linksschwenk“ eingelegt (vgl. aber auch die Einordnung durch The Political Compass, Bundestagswahl 2013, mit z.B. der Linken, Bundestagwahl 2017). Darüber hinaus stimmen die Humanisten auch recht gut mit der FDP überein (PD = 0,26), als einzige Partei des „Linken Ecks“ (PD ≥ 0,45 zwischen FDP und anderen Parteien des „Ecks“). Die Humanisten wären also eine Alternative für ehemalige Piratenwähler die über den Linkstaumel ihrer Partei hinwegkommen wollen. Wäre da nicht die 5%-Klausel, die sie wohl nun zwingt eine Partei zu wählen, die nicht libertär und dezidiert rechts (bzw. nicht-links) ist (PDFDP-AfD = 0,34; PDAfD-CDU/CSU = 0,41, PDAfD-SPD/Grüne/Linke ≥ 0,57). [Vgl. auch die Einordnung an der links-rechts-Achse durch The Political Compass; rechts ist in diesem Zusammenhang nicht zu verwechseln mit der autoritär-nationalen Rechten. Wirtschaftspolitisch steht die extrem-autoritäre AfD links der FDP, wie die meisten Rechtspopulisten.]

Koalitionsfrage

Laut ihrer Antworten auf die 36 Fragen des Wahl-O-Mats sind sich die Grünen und die FDP einfach nicht grün (oder gelb; PD = 0,55). Die Datenlage zeigt nur zwei (mehr oder weniger) schmerzfreie Optionen für die Kanzlerin: mit der SPD oder der FDP als Juniorpartner. Schwarz-Grün (PD = 0,46) oder Jamaica würde bedeuten, dass die Partner a) ein wenig geflunkert haben, was ihre Antworten angeht, b) recht große Kröten schlucken müssen, was ihre Einstellung angeht, oder c) einfach alle strittigen (50% und mehr) Punkte die nächsten vier Jahre liegen lassen müssten. [Die Ironie ist, daß die CSU real-politisch den Grünen und der SPD näher steht als der FDP, zerlegt man politische Einstellung in eine wirtschaftliche (links-rechts) und soziale (libertär-autoritär) Achse], wie in den Analysen von The Political Compass für die letzten drei Bundestagswahlen.]

Die Schlußfolgerung

Das Positive vorweg: Wenn sich die Parteien halbwegs an das halten, was sie der bpb im Rahmen des Wahl-O-Mats geantwortet haben, hat der Wähler sechs echte Alternativen. Linke, Grüne, SPD, CDU/CSU, FDP und AfD stimmen in mind. 20% der Fragen nicht überein. Wählern, die beim letzten Mal Die Linke gewählt haben und jetzt die AfD wählen werden (oder umgekehrt; PD =0,7), haben entweder ihre Einstellung um 180° gedreht in den vier vergangenen Jahren, oder echt keine Ahnung was sie tun.

Negativ sind kleinere Aspekte am Wahl-O-Mat.
Zum einen, die Möglichkeit "neutral" zu einer Frage zu sein, und die Wertung als ein Punkt. Dies ermöglicht Parteien kritische Fragen zu umgehen (wie die CDU/CSU bei der Frage nach der Obergrenze und Linke und Grüne bei der Frage des bedingungslosen Grundeinkommen). Anzudenken in dem Zusammenhang wäre auch, daß man angesichts der unübersehbaren Differenzen zwischen CDU und CSU, beide Parteien getrennt antworten läßt. Die CDU/CSU enthielt sich bei einem Fünftel (21%) der 36 ausgewählten Fragen (das entspricht 8 sicheren Punkten von max. 72), deutlich mehr als SPD (13%), FDP (11%), AfD/Grüne (8%) und Die Linke (5%). Denkbar wäre Fragen, in denen die Partei oder der Wähler "neutral" angegeben hat, nicht zu werten. Derzeit ist "neutral" ambivalent: es kann bedeuten, dass die Beantwortung zu heikel ist für die gefragte Partei, oder umstritten ist innerhalb der Partei, ich der Frage gegenüber neutral bin (derzeitige Wertung), aber auch daß mir die Frage schlicht komplett egal ist (also nicht gewertet werden sollte).
Zum anderen, daß es keine Auflistung aller Parteien gibt, sondern man für die volle Information vier mal je acht Parteien auswählen muß. Ich bin vermutlich nicht der einzige, der die höchsten Übereinstimmungen mit Parteien hat, die keine Chancen auf den Einzug in den Bundestag haben (meine Position im Netzwerk, und die dadurch ausgelösten Effekte, sind methodisch recht interessant). Ich frage mich allerdings, wieviele von denen, die das Informationsangebot des Wahl-O-Mats nutzen, alle 32 Möglichkeiten überprüfen. Hilfreich wäre auch die Antworten der Parteien nicht nur als PDF, sondern auch als spread-sheet vorzulegen.

Was am meisten fehlt, ist eine Grafik, die das Verhältnis der Parteien zueinander wiedergibt auf der Basis der Antworten zum Wahl-O-Mat. Idealerweise mit der Möglichkeit sich selbst einzublenden. Da sich der Frage- und Antwortbogen leicht in eine binäre (oder ternäre, "0", "1", "2", wenn man die bisherige "Neutral"-Wertung beibehalten will) Matrix umformen läßt, sollte dies kein Problem sein mittels der zahlreichen Methoden der vergleichenden Statistik.

Links

Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/ 
Wahl-O-Mat 2017: https://www.wahl-o-mat.de/bundestagswahl2017/
Analyse von Political Compass zur Bundestagswahl 2017: https://www.politicalcompass.org/germany2017 [Dank an Markus für den Tip.]
Der nüchterne Methodik-Blogpost zum Thema (in Englisch, ab 12.9. verfügbar): https://phylonetworks.blogspot.com/2017/09/a-network-of-political-parties.html
Zuletzt noch der Link zum ZIP-Archiv mit den Analysendaten/-dateien für politisch-interessierte Phylogenetiker zum Selbsttest.

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