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Lernen mit Lindner – die Geometrie der Mitte

Nach dem PR-Fiasko in Thüringen, macht die FDP wieder ganz auf Mitte. Zeit für eine paar Bildchen.

In Hamburg tritt die FDP mit dem Slogan an „Die Mitte lebt“. Damit meint sie nicht etwa die SPD oder die Grünen, sondern sich selbst.

Denn da wo die FDP ist, ist auch die Mitte.
(SZ 20.2.2020, S. 2, Auf Sinnsuche) Die Mitte ist auch Lindners Thema, zielgruppengerecht definiert er sie vor denjungen Akademikern wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich, erstens, zweitens, drittens. Und immer kommt die FDP dabei heraus. Die Menschen zwischen oben und unten, zwischen Klimanotstand und Klimazynismus, zwischen den rechten und linken Systemveränderern. Die Menschen, die „im verschneiten Hochschwarzwald Diesel fahren müssen“, weil sie sonst nicht zur Arbeit kommen und das Auto außerdem noch nicht abbezahlt haben; die aber trotzdem auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. So ungefähr muss man sich, 50 Minuten sehr knapp zusammenfassend, Linders FDP vorstellen.
...
„Die Äquivalenztheorie teile ich [Lindner] nicht.“ Bei den Linken würden die Fragen der parlamentarischen Demokratie anders beantwortet als bei der AfD, sie seien nicht gleich weit entfernt von der Mitte.
Letzteres bringt uns zur Geometrie und den sogenannten Euklidischen Distanzen (Abstand)

Relative und absolute Mitten

Die klassische Trennung in rechts und links ist sehr unpräzise, wenn es um politische Landschaften geht, und relativ. In Ungarn steht z.B. mit der FIDESZ eine Partei in der (Wähler)Mitte, deren Aussagen in Deutschland einige Landesverbände (immer weniger) der AfD rot (bzw. rostfarben) anlaufen lassen würde.

Ein Versuch Positionen von Parteien zu objektivieren und damit länderübergreifend vergleichen zu können zeigt der Political Compass auf. Er kategorisiert Parteien entlang eines allgemeinen Fragenkatalogs und absoluter x- und y-Achsen. Hier das Ergebnis für die Bundeswahl 2017.

Quelle Gitter und Punkte: The Political Compass. Charakterisierungen nach Wikipedia.
Am nächsten der Mitte (geometrischer Abstand) sind demnach die Linke (2.9 Punkte), gefolgt von SPD (3.9) und Grüne (4.9). Deutlich weiter weg CSU und FDP (beide 7.6) und am weitesten entfernt von der Mitte, CDU und AfD (beide 9.7; max. Abstand, d.h. Gitterecken: 14.1).

Relativ zur von Lindner gefühlten Mitte (FDP) kommt man auf folgende Abstände.

Eine Distanzsonne. Die FDP als Mitte des Systems, die anderen Parteien als Planeten in entsprechender Distanz (nach Political Compass) zur Sonne.

Relative Mitten findet man häufiger. Während die Standard-Wahl-O-Mate der bpb (und ihrer Landespendants) nur Übereinstimmungsbalken liefern, hat man für die Niedersachsenwahl 2017 das 2D-Prinzip des Political Compass übernommen.


Mit zwei wichtigen Änderungen.
  1. Die Mitte ist nicht mehr absolut, sondern relativ.
  2. Statt liberal (Anarchismus) — autoritär (Faschismus) zeigt die sozialpolitische y-Achse (gespiegelt) die politisch weniger extrem anmutenden Antagonisten progressiv — konservativ.
Nimmt man Lindners These, nachdem die FDP die Mitte definiert, waren also alle anderen Landesparteien in Niedersachsen links(-extrem) und die klassischen eher linken Parteien (Grüne, SPD, Linke) dtl. progressiver als erlaubt (weiter weg von der Mitte als die rechten, CDU und AfD). Die Linke war auch in Niedersachsen wieder deutlich weiter weg als die AfD von Linders gefühlter Mitte.

Angaben in Proportion zur Maximaldistanz (Linke–FDP = 1).

2017 war die AfD (schon damals euroskeptisch, ausländerfeindlich, chauvinistisch in sämtlichen Bedeutungen, antiliberal) also noch ganz klar eine Partei der Mitte. Auf jeden Fall näher der durch die FDP-definierten Mitte als SPD, Grüne und Linke.

So nah und doch so fern

2017 ist lange her. Für die Landtagswahlen 2019 im Osten gab es keine Wahlkompasse, nur die klassischen Balken Wahl-O-Mate (Brandenburg, Sachsen, Thüringen).

Paarweise Distanzen, wie ähnlich/ unähnlich sich zwei Objekte sind, lassen sich jedoch für alle möglichen Arten von Daten ermitteln, auch den Wahl-O-Mat-Fragenkatalogen. Das Ergebnis ist eine sogenannte Distanzmatrize in der jede Zelle die paarweise Distanz zweier Objekte angibt (entsprechende Daten finden sich in meiner figshare Datensammlung zu den Wahl-O-Mat-Netze). Wenn man die Zellen nach Wert (grün – ähnlich, rot – unähnlich) anfärbt, bekommt man eine heat map (wörtl. Hitzekarte). Für den Thesenkatalog des niedersächsischen Wahlkompass sieht das so aus.

Eine Distanz von 1 bedeutet, daß zwei Parteien im Durchschnitt um eine Kategorie pro These voneinander abgewichen sind.

Planare phylogenetische Netze, sogenannte NeighbourNets, eignen sich hervorragend um Ähnlichkeiten abzubilden, die auf solchen multivariaten Distanzmatrizen basieren. Aber sie geben nur bedingt Auskunft über die Mitte.

Die Mitte des Graphen entspricht der geometrischen Mitte zwischen allen Datenpunkten. Bei gutem fit entspricht die Distanz über die Kanten (edges) des Graphen der tatsächlichen paarweisen Distanz.

Simpler für Lernen mit Lindner ist es, diese paarweisen Distanzen direkt als Distanzsonnen darzustellen. Bzw. als 'binäre' Systeme, wenn man einen weiteren Fixpunkt hat. Lindners beschworene Mitte, die FDP, ist natürlich die Sonne, Planet X ihr jeweiliger Antagonist: die Partei, die am weistesten entfernt vom Thesenkatalog der FDP ist. 2019 war das immer dieselbe.

Wahl-O-Mat-Thesen-basierte Distanzsonnen für die Landtagswahlen 2019 (ohne Bremen). Fixpunkte: Lindners Mitte-FDP und ihr Antagonist, die Linke (die Distanzen zwischen den sonstigen Planeten sind nicht maßstäblich).

Das Grundbild ist geblieben. Wenn die FDP definiert was Mitte ist, sind die Linken zweifelsohne weiter weg als die AfD. Meinte Lindner das mit „Die Äquivalenztheorie teile ich nicht.“? Daß die Linke extremistischer ist als die AfD?

Angesicht des jüngsten Debakels (die bei ~7%-gebuchte Hamburger FDP fürchtet an der 5%-Hürde hängenzubleiben wegen Thüringengate), meinte Linder offensichtlich das Gegenteil: die Linke stehen (natürlich) sowohl der relativen aber vor allem auch der absoluten Mitte näher als die AfD (siehe auch Political Compass). Was aber auch bedeutet: Die Mitte ist sicher nicht da wo die FDP sich tummelt. Weder sozial- und ganz sicher nicht wirtschaftspolitisch.

Für alle (echte) Liberale, die entweder Lindner glauben wollen (oder müssen), daß sozialpolitisch wischiwaschi und kompromißlos neoliberal (wirtschaftspolitisch hart rechts) Mitte sei, ein kleiner Trost. In Hamburg scheint die FDP mittiger zu sein als auf Bundesebene oder in den Flächenländern. Zumindestens laut einer „algorithmischen Auswertung der Parteiprogramme durch die Süddeutsche Zeitung.

Quelle: SZ v. 15./16.2.2020, S. 5. „* Die Positionsbestimmung basiert auf einer algorithmischen Auswertung der in den Wahlprogrammen verwendeten Begriffe und stimmt mit den tatsächlichen Positionen nicht zwingend exakt überein.“ (etwas mehr Details wären vielleicht angebracht; freier Zugang zu Daten und Dokumentation können sich wohl nur Bundesanstalten, PDF Wahl-O-Mat Hamburg, und Naturwissenschaftler erlauben.

Allerdings gilt auch in Hamburg: die Linke ist wieder weiter weg von der FDP als die AfD. Hamburger Mitte ist immer noch die SPD.

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