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Die Wahl der Qual

In meinem Heimatland steht mal wieder das 4-jährliche Abnicken der Legislative an: die Bundestagswahl 2021. Wieder mal Zeit, den Wahl-O-Mat der bpb zu visualisieren, und in allgemeineren Kontext zu stellen.

Gleich vorweg, groß geändert hat sich nix seit 2017 (Wahl-O-Mat 2017 – wie nah sind sich eigentlich die Parteien). Die klassische "links" (Linke, Grüne, SPD) – "rechts" (FDP, CDU/CSU, AfD) Teilung ist auch in diesem Jahr dominierend, wenn auch generell etwas weniger stark ausgeprägt.


Wahl-O-Mat Distanz-Netz
Hätte man nur die Qual einer Wahl: das Wahl-O-Mat Netz zur Bundestagswahl 2021, basierend auf dem Wahl-O-Mat Fragenkatalog 2021 [Daten-ZIP; Übersichts-PDF]. Die farbigen Blasen geben die schlechtesten und besten Umfragewerte der letzen Woche wieder (Quelle: wahlrecht.de)

Während sowohl Baerbock als auch Scholz nicht müde werden auf die massiven Gräben zur Linken hinzuweisen (Austritt aus der NATO, radikaler Pazifismus; Altgrünen dürfte beides noch ein Begriff sein) und die Ampel als Wunschkoalition blankzupolieren, sind die Antworten auf den Wahl-O-Mat Fragenkatalog der bpb noch von einem starken (öko-)sozialen Geist geprägt.

Zum Einstieg also dieses Mal die Gemeinsamkeiten von Grünen, SPD und FDP. In erstaunlichen 9 von 38 Punkten ist man auf einer Linie.

Pikant, 8 der 9 findet man auch bei den so unerträglichen (als Koalitions-Partner) Linken. Interessant auch, daß die für Grüne und SPD Koalitions-entscheidende Fragen (NATO-Austritt, Auslandseinsätze der Bundeswehr) bei den Jung- und Erstwählern (für die der Wahl-O-Mat eigentlich gedacht ist) keine Rolle spielen. Es findet sich nur eine These zum Militär: 

Soll Deutschland seine Verteidigungsausgaben erhöhen? (Info: Zum Erfüllen der 2%-Regel sind schlappe 80 Mrd. € pro Jahr nötig)

Dazu sagen sowohl Grüne als auch Linke nein, während die anderen Big Six (SPD, FDP, CDU/CSU, AfD) dafür sind. Sollte Scholz den "Höhenflug" (für alte Damen sind 25% wohl luftige Höhen) ins Ziel bringen (immerhin ein knappes Drittel will ihn als Kanzler, die Mehrheit findet alle drei blöd), bleibt ihm wohl nichts anderes übrig als eine gutbürgerliche Regierung des Weiterso zu bilden, nach dem Vorbild Sachsen-Anhalts: eine Dschland-Koalition aus den "Mitte" (s.un.) Parteien SPD, FDP, CDU und CSU.


So nah und doch so fern

Die SZ hat ein Wirtschaftsinstitut die Steuerpläne der seriösen nicht kleinen Parteien (Linke, Grüne, SPD, FDP und CDU/CSU) durchrechnen lassen (gute Zeit für ein kostenloses Probe-Abo) mit dem Ergebnis, daß nur Merz mit der FDP koalieren kann, sollte sie es Ernst meinen mit ihrem Programm (man ahnt warum Mutti während der 4 Jahre Schwarzgelb so sauer dreinblickte und ihr Finanzminister jetzt Kanzler werden will). Merz, ein alter Finanzhai mit Vorstellungen aus den 80igern des letzten Jahrhunderts, hat es zwar nicht zum Union-Kanzlerkandidaten gebracht, soll Laschet aber wohl alle wichtigen Entscheidungen abnehmen als einzig-relevantes Mitglied seines "Zukunftsteams".

Quelle: Süddeutsche Zeitung

Während Grüne und SPD die Einkommensschwachen entlasten und die wenigen jetzt-noch-Reicheren belasten wollen (wie die Linken, noch konsequenter), will die FDP den Staat um 88 Mrd pro Jahr erleichtern (also schon 120 Mrd. mit dem Extra für die Armee, 2%-NATO-Regel, die FDP erwartet wohl ein Wirtschaftswachstum wie unter Erhard). Natürlich vorwiegend zu Gunsten von Haushalten mit einem jährlichen Einkommen von mehr als 500.000 € (einfach das viele Extrageld bei Rüstungsfirmen anlegen). Bei der folgenden Klimapolitikstudie (SZ v. 9.9.2021) erreichten die Grünen nicht überaschend Platz 1 mit 3,62 von 4 möglichen Punkten, gefolgt von der Linken, während der unproblematischere zukünftige Koalitionspartner FDP „abgeschlagen“ auf dem letzten Platz landete mit 1,24 Punkten. Ein Hoch auf den vielversprochenen ökosozialen Umbau und Scholzens „Regierung, die gut für Deutschland ist“ (wie er im SZ-Interview klar machte).

Wie gut die Ampel paßt, sieht man auch an der Wahl-O-Mat Heat Map, den absoluten Distanzen zwischen den Parteien. Hier erstmal die Komplettübersicht:


Ein Kaleidoskop von politischen Ansichten: die Heat Map basierend auf dem Wahl-O-Mat Fragenkatalog. Typisch die deutlich höhere Übereinstimmung bei den eher, linken, liberalen und progressiven Parteien (inkl. Linke, Grüne und SPD) gegenüber den Rechten (FDP, CDU/CSU, AfD).

Und hier als mögliche Koalitions-Konstellationen (als Sternbilder):


Das Schreckgespenst Rot-Grün-Rot (lt. jüngster Umfrage vom 13.9. rechnerisch möglich [dawum.de]) – die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die geschichtsverklitterte (What do political party genealogies tell us about France and Germany?) „Rote Socken“ Kampagne(n) – ist die natürliche Koalitions-Option mit den größten Gemeinsamkeiten. Bei allen anderen Optionen, mal abgesehen von der Undenkbaren (Knackt endlich die Haselnuß!), muß mal wieder sehr viel von den Ansprüchen dem kleinsten gemeinsamen Nenner geopfert werden. Angesichts der Konfliktlosigkeit mit der auf Länderebene geampelt etc. wird, bleiben zwei mögliche Erklärungen.

  1. Der Wahl-O-Mat ist (zunehmend) unrepräsentativ. Tatsächlich werden extreme Positionen nie abgefragt, weder von den vom Verfassungsschutz offiziell anerkannten Extremisten (* , noch Extremforderungen der Linken (Bsp.: NATO-Austritt) oder FDP (Bsp.: Staat bis zur Funktionslosigkeit zurückfahren, s. Steuerpläne). Das sich links-extreme Parteien kaum abheben von links-progressiven scheint Methode zu sein. Vielleicht keiner von beiden Gruppen jemals die 5%-Hürde brechen wird, im Gegensatz zu rechts-radikalen/-populistischen Parteien with AfD und NPD.
  2. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
3. Möglichkeit: Es wird wie bei der Ampel in Rheinland-Pfalz. Die FDP begnügt sich mit Regierungsämtern, mischt sich aber nicht aktiv in die Regierung ein.

Wahlkompass und Political Compass

Um zu sehen wie mittig z.B. eine grundpolierte (Schw-)Ampel-Koalition sein würde, lohnt sich ein Blick auf seriösere Einordnungen: der Wahlkompass der Uni Münster und das Original, der Political Compass.

Der Wahlkompass der Uni Münster basiert auf 30 Thesen und berücksichtigt sowohl die Antworten als auch die Parteiprogramme aller Parteien, die bei der Europawahl mindestens einen Sitz bekommen haben (AfD und Familienpartei wollten nicht mitmachen, erstere hat aber immerhin ein Programm). Das Prinzip ist vergleichbar dem Wahlkompass zur letzten Landtagswahl in Niedersachsen (Ein Paar Infografiken..., Add-On zur Landtagswahl..., Wählerwanderung Niedersachsenwahl: Gevatter Tod wieder vorne mit dabei).


Im Eigenversuch getestet und als OK befunden: der Wahlkompass der Uni Münster (als Trans-Ghandi Utopist endet man wie erwartet ganz oben links)

Die Linken heben sich hier deutlich stärker von den Grünen ab, welche näher an der SPD liegen (im Wahl-O-Mat fast doppelt so weit auseinander wie Linke ↔ Grüne), was sowohl gesamtprogrammatisch und realpolitisch (siehe weiter unten) Sinn macht. Sozialpolitisch (progressiv-ökologisch ↔ konservativ-traditionell) liegen beide nicht so weit weg von der FDP und weiter von der CDU/CSU. Insgesamt näher ist man sich dennoch nicht, aufgrund des wirtschaftspolitischen Extremismus der FDP. Dieser wird in kaltkapitalistischer Konsequenz nur noch, das dürfte viele abgehängte AfD-Wähler überhaupt nicht interessieren, von der AfD übertroffen. Auch wenn jede neue Version der AfD ungeschminkter faschistisch daherkommt, das wirtschaftspolitische Programm stammt noch aus der Lucke-Zeit und wäre auch ganz nach Merz' oder Lindners Geschmack. Was auch der Grund ist, daß sich AfD und FDP immer recht nahe sind in allen Wahl-O-Maten (und sich AfD 4.0 und Luckes LKR, die wiedergekehrte AfD 1.0, sehr nahe sind, siehe Netz).

Wie schlecht oder recht der Wahl-O-Mat das Verhältnis der Parteien zueinander (und damit zu einem selbst) abbildet, zeigen folgende Bilder am Beispiel der obenlinks (Linke) und untenrechts Parteien (AfD).

Die Liniendicke gibt dabei die Übereinstimmung im Wahl-O-Mat wieder, je dicker, desto einiger sind sich zwei Parteien.

Bei allen Unterschieden, unterm Strich sieht man auch am Wahlkompass: Wollen Baerbock/Scholz die ökosoziale Wende, haben sie nur einen natürlichen Partner (Bekenntnis zur NATO hin oder her). Die Kröte FDP ist auch nicht größer als die von CDU/CSU.

Der Wahlkompass der Uni Münster hat nur eine relative Mitte, keine absolute. Die Parteien werden relativ gegeneinander abgebildet, nicht absolut eingeordnet. Letzteres versucht der Political Compass seit nun 20 Jahren, und sie haben es auch wieder für die Bundestagswahl 2021 gemacht.


Einordnung der Big Six durch den Political Compass (2013–2021). Die Reise nach Jerusalem spielt sich ausschließlich im Quadranten rechts-oben ab. Es geht wohl allen Deutschen einfach gut. Mit sozial und frei kann kaum Wähler gewinnen.

Ampel oder Schwampel (je nachdem ob die Alt- und Letztwähler Scholz oder Laschet den Vorzug geben) mag programmatisch ein Unding sein (insbesondere im Bund, deswegen gab' es wohl auch kein Hexell, wäre interessant zu sehen wie Baerbolz und Lindner sich ansäuseln bei Themen, wo es mit der CDU kracht), realpolitisch sind die Linke als einzig verbleibende links-liberale (im Wortsinn) Partei mit Chancen, die 5%-Hürde zu reißen, einfach zu isoliert. Während die solid-rechtsradikale(wirtschaftspolitisch) FDP mit jedem kann, denn bürgerlich (mit Hang zum Autoritären) sind alle.

PS Für jeden der die Richtigkeit der Einordnung von Grünen und SPD anzweifelt, nämlich mitte-rechts seit spätestens 2017, empfehle ich den Selbsttest (auf Deutsch verfügbar; aber ehrlich antworten!)


Übrigens

Es gibt natürlich einige Alternativen wie z.B. den voteswiper, der das eigentlich unsägliche "Neutral" eliminiert hat und daher mehr Schärfe erzeugt als der Wahl-O-Mat. Die Daten sind frei-verfügbar via github und maschinenlesbar (im Gegensatz zu den Kompanden). Mir fehlen zur Auswertung der Voteswiper-Daten die nötigen Skripting-Skills, aber es gibt noch andere, die gerne etwas mehr visualisieren als bloße Balken. Zwei Beispiele von Twitter:

Der Wahl-O-Mat als PCoA mit Clusteranalyse von MaddeMad Digger


Auch sehr informativ (selbe Quelle): die Kosinus-Distanzen als Balkendiagramme, Vergleichend für Wahl-O-Mat und Voteswiper.


Und von Otmar S mit Linke und NPD als Eichpunkte (für Landtagswahlen 2016).

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